Spaziergang in die Abgründe des Menschen

#für mehr Menschlichkeit und Mitgefühlthe day after... Der Tag an dem ich den Glauben an die Menschheit verlor ©Regina Fischer-Cohen

Es ist Freitag spätnachmittags, die Dämmerung setzt bereits ein, und plötzlich sehe ich nur noch Rot. Es ist Blut. Mein Blut. Wie aus einem defekten Wasserhahn tropft es unaufhaltsam aus meinem Mund.  Ich beuge mich vor, forme mit meinen Händen eine Schale, um es aufzufangen. Will paradoxer Weise meine Klamotten retten, aber es ist sinnlos. Da fließt einfach zu viel. Wie ferngesteuert  tastet meine Zunge den Mund ab und stößt dabei auf einen ausgefransten Fleischlappen, der von der Oberlippe hängt. Das erklärt einiges, aber warum ist jetzt mein linkes Ohr verschlossen? Wieso höre ich auf der Seite nichts mehr? Vorsichtig fahre ich mit der Hand über die Stelle und spüre, auch dort rinnt warmes Blut.

Wildgänse und der Traum von Freiheit vor dem tiefen Fall

Was war geschehen? Gerade eben hatte ich doch noch vollkommen fasziniert die Wildgänse beobachtet. Wie sie mit lautem Geschnatter angeflogen kamen. Zwei Mal waren sie in ihrer typischen V-Formation hoch über dem Mühlenteich hinweggeflogen und hatten dabei immer eindringlicher gerufen. Bis sich die letzten der vier auf dem Teich zurückgeblieben Jungvögel endlich auch in die Lüfte gewagt haben, um mit ihren Artgenossen in den Süden zu ziehen. Es ist ein Bild, das sich Jahr für Jahr im Herbst vor meiner Haustür wiederholt. Ein Symbol von Freiheit, Zusammenhalt und Zuversicht, das mich jedes Mal mit Sehnsucht und zugleich auch mit Wehmut erfüllt.

#Landlust, #Natur, #Gänseflug, Naturschutzgebiet

Gänseflug in landschaftlicher Idylle vor meiner Haustür ©Regina-Fischer-Cohen

Ich lebe am südöstlichen Stadtrand von Hamburg, wo der idyllische Sachsenwald und die malerischen Boberger Dünen zum Wandern und Spazierengehen einladen. Dazu habe ich das Glück, dass mit dem Mühlenteich ein kleines Naturschutzgebiet unmittelbar an mein Grundstück angrenzt. Klar, dass ich dort, wann immer es geht, meine Runden drehe. So auch an diesem Tag, und wie so oft hat mich Familienhund Tapsi begleitet. Dabei ist uns am Ende ein stattlicher Mischlingsrüde begegnet. Ein hübscher Kerl, noch relativ jung und voller Energie. Entsprechend angetan war unsere Kleine, und so tobten die beiden ausgelassen durchs Gelände.  Bis irgendwann das Herrchen kam, ein gepflegter Best Ager mit dem ich ein paar Worte wechselte, bevor jeder von uns in entgegengesetzter Richtung weiterging.  Alles, was ich danach erinnere, ist das Bild von den Gänsen, die am Himmel davonzogen und dann ein gewaltiger Schlag, der mich aus dem Nichts heraus am Rücken traf und zu Boden warf.

Zivilcourage, Mitgefühl – was ist das?

Im Nachhinein ist klar: Der Rüde hatte in der Ferne beschlossen, seine fröhliche Hetzjagd mit unserer Kleinen noch mal neu zu starten und war mit entsprechendem Vollgas zurückgekehrt. Wobei er im Sprint kurzfristig entschieden haben muss, mich bei seinem Spiel mit einzubeziehen.

Bis zu diesem Punkt könnte man das Ganze als einen für mich zwar tragischen, ansonsten jedoch ganz normalen Zwischenfall im Leben betrachten. Doch die Geschichte geht weiter. Als ich mich aufgerappelt hatte, sah ich, wie der Mann in weiter Ferne seinen Hund an die Leine nahm, um weiterzugehen. Ich hatte kein Handy dabei, spürte, wie das Blut an mir herunterlief und rief verzweifelt: »Halt! Bitte helfen Sie mir! Rufen Sie einen Unfallwagen!« Tatsächlich kehrte der Hundehalter dann nach anfänglichem Zögern um und kam ein paar Meter auf mich zu. Doch als er mich aus der Nähe sah, schien ihn die Panik zu packen. Statt zu helfen, drehte er sich um und eilte davon. »Oh nein, bitte, helfen sie mir«, keuchte ich, während ich kraftlos zusammensackte. Doch der Mann hatte seine Entscheidung getroffen und schaute nicht mehr zurück. Zu meinem Glück näherte sich aber noch ein anderer Spaziergänger. Der mag so Mitte 50 gewesen sein, kräftig und von beachtlicher Größe. Als er mich endlich erreicht hatte, flehte ich ihn an, er möge mir einen Krankenwagen rufen. Es war fast dunkel geworden. Außer ihm war weit und breit kein Mensch mehr zu sehen. Und nun passierte das Unglaublichste: Der Mann musterte mich, blickte mir eiskalt in die Augen und ließ mich dann ohne ein Wort zurück.

Keine Zeit für Menschlichkeit in unserer virtuellen Welt?

Leute – ich frage euch: Wie weit ist es mit uns gekommen? Leben wir heute tatsächlich nur noch in unseren virtuellen Scheinwelten, in denen es keine realen Gefühle mehr gibt? Sind wir allen Ernstes schon so weit abgestumpft, dass wir den Schmerz und das Leid von anderen nicht mehr wahrnehmen, nicht mehr nachempfinden können? Es war mehr als offensichtlich, dass ich Hilfe gebraucht habe. Meine Haare, mein Gesicht – von den Schläfen abwärts über den Hals bis ins Dekolleté – alles war blutverschmiert, wie ich später feststellen sollte.

Hätte ich an jenem Abend das Bewusstsein verloren – ich hätte in dieser Nacht einsam am Wegrand verbluten können. Aber ich hab´s überlebt. Und wenn ihr mich jetzt fragt, was ich empfinde: Ich hege absolut keinen Groll gegenüber dem Hund. Ihm fehlt die Erziehung, aber das ist schließlich nicht seine Schuld. Vom Charakter her erschien er mir durchweg liebenswert. Und wie denke ich über die beiden Männer? Da gibt es nur zwei Emotionen: tiefe Traurigkeit und aufrichtiges Mitgefühl. Ich bin keine heilige Samariterin, aber die beiden tun mir unendlich leid. Vor allem der Herr, der mir zuletzt begegnet ist. Ein Mensch, der mit einem dermaßen kalten Herzen leben muss, besitz keine Liebe mehr und nichts auf der Welt wird ihn wärmen können.

#Bundeswehr-Krankenhaus-Hamburg

Meine letzten Minuten im Bundeswehr-Krankenhaus-Hamburg. Man beachte meine Hose. Als hätte ich´s geahnt. Eine Lady von Welt trägt zu jedem Event das passende Outfit. Sogar die Blutflecken haben sich perfekt ins Tarnmuster eingefügt :-)) ©Regina Fischer-Cohen

Pazifistin dankt dem Ärzteteam der Bundeswehr

#Bundeswehr-Karnkenhaus-Hamburg#Kiefer- und Gesichtschirurgie

Nach getaner Arbeit lächelt der Kiefer- und Gesichtschirurg des Bundeswehr-Krankenhauses neben mir. Er hat ja auch einen super-tollen Job gemacht. Ich sehe zwar wie ein gerupftes Huhn aus, aber bevor er Hand angelegt hat, ähnelte ich noch einem blutigen Steak ©Regina Fischer-Cohen

Nun soll diese Story aber nicht voller Dramatik enden, sondern mit meinem ganz herzlichen Dank an das Team vom Rettungswagen, das ich am Ende selbst von Zuhause aus gerufen habe. Dank auch an die Polizisten, die zeitgleich und automatisch mit den Rettern bei mir eingetroffen sind, um den Fall aufzunehmen. Und vor allem ganz, ganz lieben Dank an das Notfall-Team, das mich im Schockraum des Bundeswehr-Krankenhaus-Hamburg erwartet hat: der Neurologe, der Hirnchirurg, der Kiefer- und Gesichtschirurg, die HNO-Chirurgin, der Röntgenarzt und all die OP-Schwestern und männlichen Helfer. Nach der Erstversorgung im Krankenwagen hatten die Rettungssanitäter das Schlimmste befürchtet, und alle alarmiert.  Aber nachdem man mehrere Schnelltests mit mir gemacht hatte und ein MRT von meinem Kopf, verabschiedeten sich die meisten wieder von mir. »Sie haben unglaubliches Glück im Unglück gehabt«, verkündete mir der leitende Chefarzt. »Es sind keine Hirnblutungen zu erwarten, und bis auf ein Pfännchen im Gehörgang ist nichts gebrochen. Wir wollen hoffen, dass das ohne OP heilen wird, und ihre Lippe näht unser Kiefer- und Gesichtschirurg jetzt wieder wunderschön zusammen.«

PUH ! – das nennt man wirklich Glück, zumal sich der Großteil der klaffenden Wunde im Inneren meines Mundes befindet. Da wird vermutlich nicht mal eine große Narbe im Gesicht zurückbleiben. Ihr seht: Kaum überlebt, kehrt auch schon mein Ego mit der Eitelkeit zurück😊. Was menschlich ist. Und ich denke, das ist die Moral von der Geschichte: Das Menschliche – unser Gefühl und damit auch die Fähigkeit des Mitfühlens – das sollten wir uns unbedingt erhalten.

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